BRUNO LATOUR
Sophia Hornbacher-Schönleber 1. Zur Person Bruno
Latour wurde 1947 in Beaune, Burgund geboren. Nach einem Studium der
Philosophie und Ethnologie in Tours wurde er 1975 promoviert. Von 1982
bis 2006 hatte Latour eine Professur an der Ecole nationale supérieure
des mines in Paris inne und war Gastprofessor an verschiedenen
international renommierten Universitäten. Inzwischen ist
Professor für Soziologie an der Science Po in Paris. Latour gilt als
wichtiger Vertreter der Science-and-Technology-Studies und wird sowohl
in der Philosophie als auch der Soziologie und Ethnologie
rezipiert. Neben seinen universitären Tätigkeiten äußert er sich
immer wieder in Zeitungsinterviews zu Phänomenen, wie dem Klimawandel,
denen er durch seine Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) beikommen will. 2. Der Ethnologe Latour führte seine
erste einflussreiche Feldforschung im Labor des späteren
Nobelpreisträgers Roger Guillemin durch. Die Ergebnisse veröffentlichte
er 1979 gemeinsam mit dem Soziologen Steve Woolgar in „Laboratory Life.
The Social Construction of Scientific Facts“. Dabei wendet er sich von
der klassischen Wissenschaftssoziologie ab, indem er die Konstruktion
wissenschaftlicher Fakten in den Mittelpunkt stellt und damit dem
politischen Element – etwa eine bestimmte Studie durch Beziehungen
populär zu machen – Rechnung trägt. Die philosophische Grundlage
für die später entwickelte ANT legt Latour in Wir sind nie modern
gewesen , worin er die ontologische Trennung zwischen Natur und Kultur
in der Moderne radikal infrage stellt. Sie bildet ihm zufolge lediglich
eine Ontologie unter anderen und berücksichtigt die Vermittlung
zwischen Natur und Kultur, die in einer wachsenden Anzahl von Hybriden
resultiert, zu wenig. Aus diesem Grund soll die Ethnologie symmetrisch
werden und Wissenschaft sowie Technik zu ihrem Gegenstandsbereich
hinzufügen. Wissenschaftliche
Aussagen II Latour gilt als einer der Mitbegründer der ANT, die auf seinen theoretischen Überlegungen aufbaut. Sie geht davon aus, dass die Welt aus Netzwerken besteht, die eine Vielzahl von AkteurInnen und Aktanten – die bereits genannten Hybriden, denen er innerhalb der Netzwerke Handlungsfähigkeit zuspricht – umfassen. Latour versteht das Netzwerk nicht als hierarchisch und betrachtet die einzelnen Knotenpunkte des Netzwerks nicht als isolierte AkteurInnen betrachtet, sondern versteht sie relational zueinander. Ein immer wieder angeführtes, einfaches Beispiel ist das des Hotelzimmerschlüssels, der durch sein Gewicht den Hotelgast dazu bewegt, ihn an der Rezeption abzugeben, statt ihn mitzunehmen. 3. Methode Latour propagiert für seine Netzwerkanalyse ethnographische Methoden. Weil es darum geht, alle wichtigen AkteurInnen und Aktanten eines Netzwerks zu identifizieren, müssen ForscherInnen beobachtend vorgehen, indem sie diesen folgen. So können sie in den konkreten Zusammenhängen erforschen, welche AkteurInnen und Aktanten jeweils auf welche Weise miteinander agieren und was ihr Handeln beeinflusst. 4. Einordnung gegenüber
anderen zeitgenössischen Ethnologen Latour
ist insofern von einem Großteil der zeitgenössischen EthnologInnen
abzugrenzen, als er von seiner Ausbildung her primär Philosoph ist. Er
selbst versteht sich zwar wahlweise als Ethnologe oder Soziologe, doch
sein Denken ist massiv von Überlegungen zur Metaphysik, beziehungsweise
Ontologie geprägt. Insofern steht er EthnologInnen wie Philippe Descola
nahe, die als VertreterInnen des Ontological Turn
gesehen werden, unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, dass er
argumentiert, auch die Grundlage moderner Wissenschaft sei letztlich
eine ontologische Setzung, weswegen es keine klar identifizierbare
Trennung zwischen Philosophie und Ethnologie gebe. Die Bezeichnung Ontological Turn sei daher irreführend. Auch der empirische Gegenstandsbereich Latours unterscheidet sich deutlich von dem anderer zeitgenössischer EthnologInnen (gerade auch den meisten VertreterInnen des Ontological Turns), indem seine Forschungen sich nahezu ausschließlich auf westliche Wissenschaftspraxis, beispielsweise im Labor, sowie Technik. Damit kann er in gewisser Weise mit dem Konsumforscher Daniel Miller verglichen werden, der ebenfalls im globalen Norden zu Themen forscht, die nicht notwendigerweise zum klassischen Gegenstand der Ethnologie gehören. Allerdings schränkt Miller seine Forschungen zu Konsum nicht auf diese Gesellschaften ein. Latours Arbeit ist politisch geprägt, insofern er durch seine Texte einen veränderten Umgang mit Hybriden erreichen will, allerdings steht der politische Aktivismus weniger im Vordergrund seiner Arbeit als bei EthnologInnen wie den Comaroffs. 5. Kritik Latour
wird von verschiedenen Seiten Kritik entgegengebracht. Zum einen wird
ihm vorgeworfen, sein Theorie-Modell sei blind für Machtgefälle
innerhalb von Netzwerken, da alle AkteurInnen und Aktanten agency
besitzen. Insbesondere ethnologische AutorInnen kritisieren, Latour sei
lediglich an transatlantischen Laboren und Technologien interessiert,
nicht aber am „anderen Ende der globalen Netze“ , wo ebendiese
Machtgefälle nicht ausgeblendet werden können. Zum anderen erfuhr Latours Wissenschaftsforschung in den Science Wars massive Kritik von NaturwissenschaftlerInnen, die Latour ein mangelndes naturwissenschaftliches Verständnis und damit eine fehlende Grundlage für die Bearbeitung naturwissenschaftlicher Themen vorwerfen. Die Kritik des Philosophen Graham Harman zielt in eine andere Richtung: Der Metaphysiker sieht Latours Theorie als zu wenig weitreichend an, insofern sie auf der Relationalität zwischen Objekten untereinander oder Objekten und Menschen aufbaue und somit den Objekten an sich keinen ontologischen Status zuspreche, ein Schritt, den Harman in seiner Latour weiterführenden Objekt-Ontologie vornimmt. 6. Wichtige Veröffentlichungen mit Steve Woolgar 1979 : Laboratory
Life. The Social Construction of Scientific Facts. Beverly Hills: Sage. 1987: Science in Action. How to
Follow Scientists and Engineers through Society. Cambridge (Mass.):
Harvard University Press. 1995 [1991 im
Original]: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen
Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp. 1996: On Actor Network Theory. A Few
Clarifications. In: Soziale Welt. 47, S. 369–381. 1996: Der
Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Oldenburg:
Akademie Verlag. 2001: Das
Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie. Frankfurt: Suhrkamp. 2002: Die
Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft.
Frankfurt: Suhrkamp. 2007: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt: Suhrkamp. Quellen Harman, Graham
2009: Prince of Networks. Bruno Latour and Metaphysics. Melbourne: re-press. Latour, Bruno 1995: Wir sind nie modern
gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Latour, Bruno: Another way to compose the common world. ‘The Ontological
Turn in French Philosophical Anthropology’. An Executive Session of the AAA
Annual Meeting, Chicago, November 23, 2013 Rottenburg, Richard 2008: „Übersetzung
und ihre Dementierung“. In: Kneer, Georg, Schroer, Markus und Schüttpelz,
Erhard (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Frankfurt: Suhrkamp. Schmidgen, Henning 2011: Bruno Latour
zur Einführung. Hamburg: Junius. |
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Veröffentlicht am 24.04.2015 |