DAVID GRAEBER von Katharina Forster
und Elke Keller
1. Zur Person David Graeber (geb. 1961)
ist ein US-amerikanischer Ethnologe, politischer Aktivist und Anarchist. In
seiner Dissertation (1996) beschäftigte er sich nach einer intensiven
Feldforschung auf 1588 Seiten (!) mit der sozialen Spaltung der Gesellschaft
Madagaskars. Graeber lehrte bis 2007 an der Yale-University, doch nach seinem
Bekenntnis zu Anarchie und politischem Aktivismus wurde sein Vertrag nicht
verlängert. Während seiner Zeit am Goldsmiths College in London veröffentlichte
er sein bisher populärstes Werk: „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ (2011). Seit
2013 lehrt er an der London School of Economics. Gegenwärtig beschäftigt er
sich mit dem Homo oeconomicus und formuliert eine Gegenposition zum
Neo-Darwinismus („Prinzip der spielerischen Freiheit“). 2. Der Ethnologe Graeber zur Ablehnung von Universalismen: Übler als Universalismen
sei die Übertragung westlicher Definitionen in andere kulturelle Kontexte, da
dies meist unter Ausübung physischer oder ökonomischer Gewalt geschehe.
Universalismen sind für ihn nicht a priori repressiv, sondern erst in Kombination
mit der Definitionsmacht. Erst
die globale Institutionalisierung von universalistischen Wertungen könne
unterdrücken: „[…] the existence of a
global apparatus of burocratic control, backed up by a whole panoply of forms
of physical and economic violence, […]” (2007:256f). Wissenschaftliche Aussagen II Graeber und der Kulturrelativismus: Graeber lehnt die klassische
Form dieser Denkrichtung ab, denn diese führe Vergleiche mit selbst bestimmten
Normen durch. Der klassische Kulturrelativismus diene vielmehr den Bürokraten
früher und heute bei der Identifikation legitimierter Autoritäten in fremden
Gesellschaften. Den Kolonialethnologen Evans-Pritchard verbindet er deshalb in
direkter Linie mit den heutigen Ethnologen der UN oder der Weltbank, die
„Indigenität“ zuordnen. Eine mögliche Alternative könne jedoch ein
„dialogischer Kulturrelativismus“ bieten, etwa durch das gemeinsame Anerkennen
und Respektieren von Differenz oder das Einbeziehen auch unangenehmer Fragen
(bspw. diejenigen zur Kategorie Unterdrückung). Graeber wünscht sich eine Ethnologie, deren
Prämisse lautet: „[…]the assumption that
no single tradition has a monopoly on insight in such issues“ (2007:288ff). 3. Methode Graeber legt seinen wissenschaftlichen Fokus nicht ausschließlich auf die klassischen ‚nicht-westlichen’ Gesellschaften als ethnologischen Forschungsgegenstand, sondern widmet sich vielmehr der eigenen, ‚westlichen’ Gesellschaft im Hinblick auf innerhalb stattfindende sozio-ökonomische Dynamiken und deren Verstrickung im globalen Kontext. Er arbeitet sowohl mit eigenem empirischen Material als auch
interdisziplinären Vergleichen: In „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ verknüpft
er ethnologische, historische und ökonomische Erkenntnisse miteinander und
versucht, aus diesen Perspektiven die Entwicklung in ein globales
Schuldensystem nachzuvollziehen. Darüber hinaus bedient und bediente er sich
auch der klassischen qualitativen Methoden der Ethnologie; bei seinem
Feldforschungsaufenthalt auf Madagaskar oder, als Aktivist und Forscher gleichermaßen,
bei globalen Protestbewegungen, wie der Occupy-Bewegung. 4. Einordnung zum Vergleich (gegenüber)
anderen zeitgenössischen Ethnologen Seine Kritik an der Globalisierung, der neoliberalen Institutionalisierung und deren Organisationen wie Weltbank oder Internationaler Währungsfonds findet sicher Anknüpfungspunkte in dem Werk von Arturo Escobar und der „Anthropology of Development“. Beide beschäftigen sich mit den Kategorien Macht und Herrschaft bzw. kritisieren die Hegemonie oder auch Dominanz des globalen Nordens. Graebers Annahme, dass die Möglichkeit eines Zusammenbruchs traditioneller Machtbeziehungen (wie etwa der Nord-Süd-Achse) wachse, scheint sich dabei an die These von Jean und John Comaroff anzulehnen, der Süden präfiguriere die Zukunft des Nordens („Law and Disorder in Postcolony“). Während die Comaroffs eine Fetischisierung des Rechts beschreiben, stellt Graeber eine Fetischisierung der Schulden fest. Im Ergebnis scheint er jedoch hoffnungsfroher zu sein als das bekannte Forscherpaar. Einen kontroversen Anknüpfungspunkt gibt es im Werk von Daniel Miller, dessen Forschungen den Konsum fokussieren und der ein eher affirmatives Verhältnis zum Kapitalismus pflegt. Millers Relativierung des Einflusses von Konzernen und Global Playern beschreibt gar einen neoliberalen Kern seiner Arbeit, denn Konzerne bestimmen die Neoliberalisierung von Gesellschaften (Vgl. Colin Crouch, 2008, Postdemokratie). Ein öffentlicher Dialog zwischen Graeber und Miller wäre sicher spannend. David Graeber ist ein Ethnologe, der die Politisierung der Ethnologie
einfordert: „If anthropology is to emerge
as a political force of liberation, rather than simply damage control, this is
what it must, ultimately, become” (2007:289). Im Sinne dieser
Forderung versucht er mit seiner Arbeit ein breites öffentliches Publikum zu
erreichen, um als gegeben angesehene Sachverhalte zu hinterfragen und zum
Nachdenken anzuregen. Graeber leistet damit einen wichtigen Beitrag zu
aktuellen Debatten um Globalisierung, den globalen Markt und globale
Bewegungen, wie beispielsweise der Occupy-Bewegung („Inside Occupy“, 2012).
Seine Arbeit hat daher eine hohe Aktualität und Relevanz. 5. Kritik Gerade in Graebers
interdisziplinär-vergleichendem Werk über Schulden gewinnt man den Eindruck,
dass der Anspruch auf eine umfassende Darstellung eines Zeitraums von 5000
Jahren, dazu aus der Perspektive verschiedener Fächer, einen zu großen Spagat
darstellt. Diesen sucht er mit der gezielten Auswahl von Aspekten zu
bewältigen, die für seine Argumentation relevant sind – nach welchem Muster
dies erfolgt, wird nicht transparent. Zudem kann er sich nicht vollständig von
der Deutungshoheit eurozentrisch geprägter Wissenschaft lösen, obwohl er diese
kritisiert: So verzichtet er in seinem bislang wichtigsten Werk weitgehend auf
die Einbeziehung der Regionen Südamerika und Afrika – außer im Bezug auf
Sklavenhandel und Ausbeutung im Kontext der Kolonialzeit – die somit auch hier
Peripherie bleiben. 6. Wichtige Veröffentlichungen Graeber, David (2007): Possibilities. Essays on hierarchy, rebellion, desire. Oakland, Edinburgh: AK Press. Graeber, David (2012): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. 4. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta. Graeber, David (2013): Direkte Aktion. Ein Handbuch. Hamburg: Ed. Nautilus. |
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Veröffentlicht am 24.04.2015 |