relational modell

ARTURO ESCOBAR

von Lydia Reis und Jasper Schulz                                               

1. Zur Person

Arturo Escobar wurde 1952 in Manizales in Kolumbien geboren. Er studierte technische Chemie und im Anschluss Biochemie an der Universidad de Valle in Cali. Schon während seines naturwissenschaftlichen Studiums begann er sich für Entwicklungsfragen zu interessieren. Er machte seine Ph.D. 1987 in Entwicklungsphilosophie, -politik und -planung an der University of California in Berkeley und ist heute Professor für Anthropologie an der University of North Carolina. Er gehört zu den schärfsten KritikernInnen der Entwicklung. Dabei geht es ihm nicht um die materielle Seite von Entwicklung, wie bei den Wachstums-, Modernisierungs- und DependenztheoretikerInnen, sondern um den Entwicklungsdiskurs. Auf der Grundlage von Michel Foucaults Theorien zur Macht der Diskurse analysiert Escobar in den 1990er Jahren, wie die „Hegemonie der Entwicklung“ entstand. Die Idee der Entwicklung ist aus seiner Sicht zum zentralen Machtinstrument gegenüber der sogenannten Dritte Welt geworden. Die Konsequenz dieser Analyse ist seine Ablehnung gegenüber Entwicklung. Er ist neben Gustavo Esteva, Ashis Nandy, James Furgeson, Wolfgang Sachs und Majid Rahnema einer der führenden VertreterInnen des Post-Development-Ansatzes. Alternativen zur Entwicklung suchen diese TheoretikerInnen in Graswurzelbewegungen und lokalem Wissen.

2. Der Ethnologe
Wissenschaftliche Aussagen I

In seiner einflussreichen Analyse des Entwicklungsdiskurses schließt er sich den Poststrukturalistischen Ansätzen – wie Michel Foucault (1977) oder Edward Said (1978) – an. Diese Ansätze richten sich wie frühere marxistische Ansätze ihren Fokus auf Macht und Herrschaft. Ziel dieses Ansatzes ist es Machtverhältnisse freizulegen und ein Bewusstsein für diese zu schaffen, um letztendlich diese verändern zu können.

Die Kritik Escobars am System der Entwicklungszusammenarbeit hat bis heute einen großen Einfluss auf die Ethnologie der Entwicklung sowie auf die Entwicklungsethnologie. Er beginnt in seiner Analyse mit der Entstehung des Entwicklungsdiskurses und endet mit dem Gedanken eine Post-Entwicklung Ära anzustreben. Exemplarisch lässt sich seine Diskursanalyse folgender Maßen darstellen:

Die „westlichen“ Industriestaaten (Europa, insbesondere die USA) begannen nach dem zweiten Weltkrieg, die ehemaligen Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika an angeblichen objektiven Maßstäben zu messen. Kurz gesagt am Wohlstand im Rahmen von Pro-Kopf-Einkommen . Im Vergleich zu den Industriestaaten wurden so genannte Entwicklungsländer ideologisch als machtlos, passiv und arm konstruiert (Escobar 1995:8).

Durch diesen Diskurs möchte Escobar die Einflussnahme der ehemaligen Kolonialmächte auf deren ehemaligen Kolonien, unter dem Banner der Entwicklungshilfe, aufdecken.

Wissenschaftliche Aussagen II

Im Fokus seiner Kritik steht vor allem, wie gutgemeinte Entwicklungszusammenarbeit im Dienste der herrschenden Ordnung steht, Verhältnisse zementiert und zu keiner positiven Veränderung beiträgt – im Gegenteil es verschlimmert die Situation der jeweiligen Länder.

Wie schon erwähnt sind für Escobar wirtschaftliche Theorien im Entwicklungsdiskurs auf quantitative Indikatoren für Armut bezogen (Pro-Kopf-Einkommen bspw.) und somit der Ursprung des Diskurses. Als Armutsgrenze wurde im Jahr 1948 von der Weltbank bspw. ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 100 US-Dollar pro Person festgelegt. Folglich wurden zwei Drittel aller Länder der Erde als „arm“ und „unterentwickelt“ bezeichnet bzw. „entdeckt“.

Der Begriff der Entwicklung mit seiner politischen Bedeutung wird durch seinen Diskurs freigelegt, um letztendlich eine Post-Entwicklung Ära zu erreichen. Entwicklung als einzigartiges und historisches Phänomen – welche gezielte Machtausübung transportiert sowie verschleiert – wird, laut Escobar, nur mit der Vielfalt von Perspektiven und dem Rückgriff auf lokale Autonomie, Kultur und Wissen überwunden.

3. Methode

Seine Methode ist die Diskursanalyse, die er nach dem Vorbild Foucaults betreibt. Insbesondere  betrachtet er die ökonomischen Diskurse der Entwicklung sowie die Techniken der Organisation von Wissen und Macht. Als Gegenstände widmet er sich der Mangelernährung und Hunger, sowie Repräsentationsregime, welche der Konstruktion von Entitäten beispielsweise von „Bauern“, „Frauen“ usw. entstammen.

Mit der These, dass Entwicklung eine „historisch einmaligen Erfahrung“ sei, postuliert er eine diskursive Formation. Diese verknüpft systematische Wissensformen mit Techniken der Macht. Drei Aspekte sind für seine Analyse grundlegend:

 

1.       die Wissensformen, die Entwicklung kreieren und sich in Objekten, Konzepten und Theorien vereiteln
2.       das Machtsystem, das die Praxis der Entwicklung reguliert
3.       und die Subjektivitäten, welcher durch den Diskurs hervorgebracht und durch die Menschen erlernt wird (sich als entwickelt oder unterwickelt begreifen)

 

4. Einordnung zum Vergleich (gegenüber) anderen zeitgenössischen Ethnologen

Arturo Escobar ist definitiv einzuordnen im Post-Strukturalismus, der sich nicht nur auf die Ethnologie beschränkt. Escobar baut auf einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen auf: Literaturwissenschaftler, wie Said, Philosophen wie Foucault oder Mudimbe  vertreten ähnliche Richtungen beziehungsweise bilden das Fundament Escobars Argumentation. Im Vergleich zu dem Theoretiker Bhabba oder Ethnologen Appadurai lassen sich ebenfalls Parallelen ziehen. Für Letzteren stehen besonders, wie bei Escobar, subalterne Gruppen im Fokus der Forschung und sollen gegenüber den „Herrschenden“ durch die Diskurse verteidigt und in eine bessere Verhandlungsposition gebracht werden. Escobar versucht mit seiner Forschung verschleierte hegemoniale Strukturen aufzudecken und sie zu „bekämpfen“.

5. Kritik

Escobar wendet sich wohl gegen die vereinfachende Imagination, dass der Entwicklungsdiskurs  ausschließlich von den Mächtigen zu Herrschaftszwecken installiert worden sei (1995: 104), aber seine Thesen laufen oft in diese Richtung. Eine Erklärung dafür besteht darin, dass zwei Aspekte hinten angestellt worden sind: einerseits den von Foucault hervorgehobenen verwobenen und polyzentrischen Charakter der Macht, indem er diesen unilateral bei den Entwicklungsinstitutionen einordnet. Zweitens indem er den Entwicklungsdiskurs (und die Praxis) einspurig auf das Motiv der Herrschaftssicherung zurückführt. In Escobars Ausführungen ist keine Lücke feststellbar zwischen dem Einflussbereich der Herrschenden, dem Entwicklungsdiskurs sowie der Durchführung von  Entwicklungsprogrammen und -projekten. Die Vermittlung zwischen Ebenen fehlt jedoch – zugunsten eines Funktionalismus, der Macht als Abrichtungsinstrument skizziert. Escobars Anwendung der Foucault’schen Analytik gibt wichtige Denkanstöße, bleibt aber stellenweise in einem etwas zu undifferenzierten Anti-Imperialismus gefangen.

 

6. Wichtige Veröffentlichungen

Bücher:


2009: Territories of Difference: Place, Movements, Life, Redes (New Ecologies for the Twenty-First Century).

2006: World Anthropologies: Disciplinary Transformations in Systems of Power.-

1998: Cultures of Politics, Politics of Cultures: Re-visioning Latin American Social Movements.

1995: Encountering Development:The Making and Unmaking of the Third World

Aufsätze (Aktuell):

2010: Latin America at a Crossroads: Alternative Modernizations, Postliberalism, or Postdevelopment?

2009: Other Worlds Are (Already) Possible: Self-Organization, Complexity, And Post-Capitalist Cultures.

2007: World and Knowledges Otherwise: The Latin American modernity/coloniality Research Program.

2006: Postdevelopment.

2006: Dudly Seers.

2005: Other Anthropologies and Anthropology Otherwise: Steps to a World Anthropologies Framework.

2005: Economics and the space of modernity.


Veröffentlicht am 24.04.2015