Protrait of H. Bhabha  from wikipedia

HOMI K. BHABHA

Yves Reichling und Anna Honecker

1. Zur Person

Homi K. Bhabha wurde 1949 in Mumbai, Indien geboren. Der parsische Postkolonialist und Literaturwissenschaftler studierte Englische Literatur im B.A. an der Bombay University und absolvierte seine M.A. sowie D.Phil. Studien im gleichen Fach an der Oxford University. Eine Stelle als Professor im „Department of English“ an der University of Sussex folgte, welche er für mehr als 10 Jahre behielt. Er war Gastprofessor an mehreren Universitäten, darunter Princeton University und das University College in London. Nach seiner Zeit an der University of Sussex lehrte er als Professor in Humanwissenschaft an der University of Chicago. Seit 2001 ist er der Anne F. Rotheberg Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard University. 

2. Der Ethnologe
Wissenschaftliche Aussagen I

Für Homi K. Bhabha sind Kulturen dynamische, sich stetig wandelnde Entitäten, die verschieden machtvoll und einflussreich sein können. Beim Aufeinandertreffen zweier Kulturen handelt es sich demnach immer um ein ungleiches Gefälle. Bhabha spricht auch nicht von der „Diversität“ von Kulturen, sondern von „Differenz“. Diese unterscheiden sich darin, dass kulturelle Diversität ein Bild von vielen verschiedenen, statischen Gesellschaftsgruppen vermittelt, wogegen der Begriff der „Differenz“ diese eher negative Konnotation nicht besitzt. So wird mit „kultureller Differenz“ die stetige Wechselwirkung zwischen Kulturen und deren flexible Natur respektiert und unterstrichen.

Wissenschaftliche Aussagen II

Bhabhas „dritter Raum“ oder „third space“ entsteht beim Zusammentreffen von Kulturen und repräsentiert eine Zone, in der Kulturen sich wandeln. Durch die gegenseitige Beeinflussung werden bestimmte kulturelle Aspekte angenommen, verändert oder ignoriert. In diesem „Dazwischen“ löst sich das ursprüngliche Machtgefälle auf. Hier manifestieren sich die Ambivalenzen der verschiedenen Weltsichten. In diesem Raum „In-Between“ wiegt die Stimme der schwächeren Kultur genauso viel wie die der stärkeren. Mit dem der Biologie entwedeten Begriff „Mimikry“, beschreibt Bhabha eine Schutzanpassung  durch partielle Anpassung. Durch diese kulturelle Tarnung gewinnt die unterdrückte Partei einerseits an Handlungsspielraum, andererseits eröffnet sich in diesem dritten Raum dazwischen, eine Möglichkeit für Widerstand „under cover“. Für die Kolonisierten kann diese Strategie Überleben heißen und Sicherheit verleihen. So versucht der Kolonialisierte seinem Kolonisierer insofern zu gehorchen, indem er sich so verhält wie letzterer. Dies ist jedoch immer nur eine Art kompromissvolle Farce, weil weder der Kolonisierer noch der Kolonisierte sich in irgendeiner Weise vom anderen verändern und unterdrücken lassen will. So ist man zwar gleich, aber nicht ganz. „The same, but not quite.“

 

3. Methode

Als Literaturwissenschaftler entwickelt Bhabha seine Theorie anhand verschiedenster Autoren. Frantz Fanon, Jacques Lacan und Sigmund Freud im Falle der Hybridität und der Mimikry, Edward Said, Michel Foucault, Jacques Derrida und Claude Lévi-Strauss u.a. für den dritten Raum und die Ambivalenz von kolonialen Ansprüchen. Literarische Werke wie die von Joseph Conrad, Rudyard Kipling oder V.S. Naipaul werden ebenfalls behandelt. 

4. Einordnung zum Vergleich (gegenüber) anderen zeitgenössischen Ethnologen

Die Theorien Bhabha sind aus der heutigen Ethnologie kaum mehr wegzudenken. Bhabha unterstreicht immer wieder seinen Aufruf zum “Unterbrechen”, “Entwurzeln”, zum Infragestellen und Neubetrachten. Bruno Latour kritisiert wie Bhabha, der das Postmoderne aus der “Position des Postkolonialen” heraus umdenken möchte, die Moderne. Genau wie in Bhabhas Theorien lösen sich kulturelle Machtgefälle in Latours „Netzwerkanalyse“ auf. Beide kritisieren den Westen und dekonstruieren als Polstkolonialisten seine Macht. Bhabha geht es vor allem darum, den Minoritäten, den Marginalisierten, den Unterdrückten und Kolonisierten eine Stimme zu verleihen und die bestehende Weltordnung aus deren Perspektive zu betrachten. Sein Kulturbegriff gehört heute zu den meißt verwendetsten. Außerdem lassen sich rassistische Theorien und Radikalisierungen besser verstehen genau wie Prozesse der Identitätspolitik. Die Konzepte des dritten Raumes sowie der kultureller Hybridität können auf die Ideen Appadurais übertragen werden. Kulturelle Identität wird folglich nicht mehr als geographisch festgefahren, sondern als globalisiert, flexibel und ortslos verstanden. Es sind digitale Medien, die Appadurai zufolge diese „Entortung“ ermöglichen. So kommt Appadurai bei der Beschäftigung mit der Lokalität von Kultur auf seine verschiedenen „Scapes“, während Bhabha sich auf seinen Dritten Raum konzentriert. Kultur ist für Bhabha auch eine Überlebensstrategie. Im kolonialen Diskurs nimmt sich jede Partei nur so viel von der jeweils anderen Kultur wie nötig und passt diese an bereits vorhandene Sichtweisen an. So entsteht Hybridität. Der Zustand dieser Hybridität manifestiert sich nach Bhabha v.a. im Akt der Mimikry, der Nachahmung.  Bhabha zufolge sind die verschiedenen Vorstellungen von Identität und einer idealen Welt eben nur Vorstellungen. Sie sind imaginär. Erfunden und erzählt.

 

5. Kritik

Obwohl „Die Verortung der Kultur“ einiges an Konzentration und Ausdauer fordert, ist dessen Lektüre für Ethnologen essentiell. Bhabha bietet Impulse, dekonstruiert und fasst schwer Greifbares in Wörter. Metaphern und Illustrationen werden angewandt, um Abstraktes zu konkretisieren. Absolute Lösungen für bestehende politische und gesellschaftliche Probleme gibt Bhabha keine. Als Theoretiker überlässt er anderen deren Umsetzung in die Tat.
Kritisiert wird v.a. das Abstrakte, Praxisferne an Bhabhas Werk. Dies veranlasst, dass vorgeworfen wird, ahistorisch vorzugehen. Auch haben viele Leser Schwierigkeiten, sich an Bhabhas anmaßenden Schreibstil zu gewöhnen. Ohne „Die Verortung von Kultur“ und Bhabhas Theorien würde der heutigen Ethnologie jedoch nicht mehr auskommen. Kulturen sind nicht mehr essentialistisch-divers zu verstehen, sondern nach Bhabhas Differenzbegriff. Der Perspektivwechsel wurde an eine bis dahin wenig beachteten Bereich des gesellschaftlichen Alltags angewandt – Marginalisierte und Unterdrückte bekommen durch u.a. Bhabha ein Mitspracherecht. Am Ende geht es Homi K. Bhabha vor allem darum, Bestehendes zu unterbrechen, die Welt sozusagen auf den Kopf zu stellen und festgefahrene Überzeugungen neu zu erfinden. Denn Weltanschauungen und Gesellschaftsordnungen sind nicht weiteres als ein Produkt der Imagination, ein fehlerhaftes, interpretierbares Narrativ.

6. Wichtige Veröffentlichungen


1993: „In a Spirit of Calm Violence“

1994: „The Location of Culture“

1998: „Modernity, Culture and the Jew“

2000: „Cosmopolitanisms“ & „On Cultural Choice“

2002: „Democracy De-Realized“

2003: „On Writing Rights“   &   „Making Difference: The Legacy of Culture Wars“

2005: „Framing Fanon“ & „Edward Said: Continuing the Conversation“
 
2006: „Without Boundary“ & „The Black Savant and the Dark Princess“

2009: „Elusive Objects“ & „On Global Memory“

2011: „Beyond Photography“ & „Our Neighbours, Ourselves“


Veröffentlicht am 24.04.2015